Ultrakalte Wendung in der Chemie: Erste vieratomige Supermoleküle bei Nanokelvin-Temperaturen realisiert
Forscher:innen am MPQ haben eine neuartige Methode entwickelt, um erstmals vieratomige Supermoleküle bei bislang unerreichten Tieftemperaturen von 134 Nanokelvin zu erzeugen – ein wissenschaftlicher Durchbruch mit weitreichenden Auswirkungen auf die Erforschung von ultrakalter Chemie und Quantenmaterialien.
Einem Team aus Experimentalphysikern des Max-Planck-Instituts für Quantenoptik (MPQ) und Theoretikern der Chinesischen Akademie der Wissenschaften (CAS) ist es erstmals gelungen, einen neuen Molekültypus zu erzeugen und zu stabilisieren: sogenannte feldgebundene vieratomige Moleküle. Diese "Supermoleküle" sind so zerbrechlich, dass sie nur bei ultrakalten Temperaturen existieren können. Ihre Existenz wurde schon lange vermutet, aber noch nie experimentell nachgewiesen – bis jetzt. Die in dieser neuen Studie erzeugten polyatomaren Moleküle bestehen aus mehr als zwei Atomen und wurden erfolgreich auf 134 Nanokelvin heruntergekühlt – mehr als 3000 Mal kälter als die Temperatur der bisher erzeugten vieratomigen Moleküle. Dieses Ergebnis markiert nicht nur eine Meisterleistung in der Molekularphysik, sondern auch einen Meilenstein in der Erforschung exotischer ultrakalter Materie. Die Arbeit erscheint diese Woche im Fachmagazin Nature.
Vor etwa zwei Jahrzehnten sagte der amerikanische theoretische Physiker John Bohn zusammen mit seinen Kollegen eine neue Art der Bindung zwischen polaren Molekülen voraus: Wenn die Moleküle eine asymmetrisch verteilte Ladung tragen – Physiker nennen das Polarität – können sie sich demnach in einem elektrischen Feld zu schwach gebundenen "Supermolekülen" vereinen.
Das Verhalten dieser polaren Moleküle kann man sich vorstellen wie das zweier Kompassnadeln in einer harten Hülle. Nahe beieinander erfahren die Kompassnadeln eine Anziehung, die stärker ist als das Magnetfeld der Erde, und sie zeigen zueinander, anstatt wie gewöhnlich nach Norden.
Ein ähnliches Phänomen lässt sich bei polaren Molekülen beobachten, die – sofern bestimmte Bedingungen herrschen – durch elektrische Kräfte eine einzigartige Bindung bilden können. Sie erinnert an den Tanz eines Paares, das sich einerseits festhält, aber gleichzeitig immer einen gewissen Abstand voneinander hält.
Diese „Supermoleküle“ sind viel schwächer gebunden als typische chemisch gebundene Moleküle. Dafür ist ihre Bindung viel weitreichender: Sie wirkt über Distanzen, die mehrere hundert Mal größer ist als die von normalen Molekülen.
Aufgrund dieser großen Reichweite sind solche „Supermoleküle“ sehr anfällig: Verändert man die Parameter des elektrischen Feldes an einem entscheidenden Wert nur marginal, ändern sich die Kräfte zwischen den Molekülen dramatisch – ein Phänomen, das als "feldgebundene Resonanz" bezeichnet wird. Dies ermöglicht es den Forscher:innen, die Form und Größe der „Supermoleküle“ mit einem Mikrowellenfeld flexibel zu variieren.
Ein Drama in drei Akten: von zwei- zu vieratomigen Molekülen
Ultrakalte polyatomare Moleküle besitzen eine komplexe innere Struktur, die spannende neue Möglichkeiten in der kalten Chemie, bei Präzisionsmessungen und in der Quanteninformationsverarbeitung verspricht. Ihre hohe Komplexität im Vergleich zu zweiatomigen Molekülen bedeutet jedoch eine große Herausforderung für den Einsatz herkömmlicher Kühltechniken wie die direkte Laserkühlung oder die Verdampfungskühlung.
Forscher:innen des "NaK Lab" (Natrium-Kalium-Labor) am MPQ unter der Leitung von Dr. Xinyu Luo, Dr. Timon Hilker und Prof. Immanuel Bloch haben in den letzten Jahren eine Reihe bahnbrechender, in Nature veröffentlichter Entdeckungen gemacht, die entscheidend dazu beigetragen haben, diese Probleme endgültig zu überwinden: Zunächst erfanden die Forscher in diesem Labor 2021 eine neuartige Kühltechnik für polare Moleküle unter Verwendung eines leistungsstarken rotierenden Mikrowellenfeldes.
Damit stellten sie einen neuen Tieftemperaturrekord auf: Sie erreichten einen Wert von nur 21 Milliardstel Grad über dem absoluten Nullpunkt bei minus 273,15 Grad Celsius. Ein Jahr später gelang es den Forschern, die Bindung dieser Moleküle erstmals in Streuexperimenten zu beobachten. Damit konnten sie den ersten indirekten Beweis liefern, dass die theoretisch lange vorhergesagten exotischen Gebilde wirklich existieren.
Nun liegt sogar der direkte Beweis auf dem Tisch, denn dem Team gelang es, diese Supermoleküle im Experiment zum ersten Mal zu erzeugen und zu stabilisieren. Abbildungen dieser "Supermoleküle" offenbaren ihre p-Wellen-Symmetrie – ein spezifisches Merkmal, das entscheidend ist, um topologische Quantenmaterialien zu entwickeln, die wiederum für fehlertolerante Quantenberechnungen relevant sind.
„Diese Ergebnisse werden unmittelbare und weitreichende Auswirkungen haben", sagt Xing-Yan Chen, Doktorand und Erstautor der Arbeit. "Da die Methode auf diverse Molekülarten anwendbar ist, lässt sich nun eine größere Vielfalt ultrakalter polyatomarer Moleküle erforschen. In Zukunft könnte es möglich sein, noch größere und vor allem langlebigere Moleküle zu erzeugen, die insbesondere für Präzisionsmessungen und die Quantenchemie interessant sind".
"Zu diesen wundervollen Ergebnissen gelangten wir nicht zuletzt dank unserer engen Zusammenarbeit mit Prof. Tao Shi und seinem Team von der CAS“, betont Dr. Xin-Yu Luo, der Leiter des Experiments, „Unser nächstes Ziel ist es nun, diese bosonischen ‚Supermoleküle‘ weiter abzukühlen, um daraus ein Bose-Einstein-Kondensat herzustellen. In einem solchen exotischen Materiezustand bewegen sich alle Moleküle gemeinsam, was uns enorm dabei helfen wird, die Zusammenhänge in der Quantenphysik besser zu verstehen. Für uns Physiker ist es besonders erstaunlich, dass sich ein Bose-Einstein-Kondensat durch ein einfaches Abstimmen des Mikrowellenfeldes in eine neuartige Quantenflüssigkeit aus fermionischen Molekülen verwandeln kann, die die spezielle p-Wellensymmetrie beibehält.“