Auf neuen Wegen zu ultrakalten Molekülen
Wissenschaftler am MPQ erzeugen ein extrem kaltes Gas aus polaren, organischen Molekülen.
Ultrakalte Moleküle sind eine Wissenschaft für sich. Sie bieten die Möglichkeit, fundamentale chemische Prozesse zu untersuchen oder die Physik jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik zu ergründen. Die Sache hat nur einen Haken: Moleküle lassen sich aufgrund ihrer vielfältigen Schwingungs- und Rotationszustände nur schwer auf richtig tiefe Temperaturen abkühlen. Ein Wissenschaftlerteam um Dr. Martin Zeppenfeld aus der Abteilung Quantendynamik von Prof. Gerhard Rempe am Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching hat jetzt aus der Not eine Tugend gemacht. Die von der Gruppe entwickelte sogenannte opto-elektrische Sisyphus-Kühlung nutzt die Polarität von Formaldehyd-Molekülen aus, um sie in mehreren Schritten auf Temperaturen von rund 420 Mikrokelvin zu bringen (PRL, 10. Februar 2016, DOI:10.1103/ PhysRevLett.116.063005).
Durch den Prozess wird nicht nur die Temperatur des Gases erniedrigt, sondern ihm auch Entropie, d.h. thermische Unordnung, entzogen. Man nähert sich so dem Regime, in dem das Gas nur noch durch die Quantenphysik richtig beschrieben wird. „Das schafft jetzt die Voraussetzung dafür, weiter gehende Experimente anzuschließen, mit denen wir fundamentale Erkenntnisse über das Verhalten molekularer Vielteilchensysteme gewinnen können“, erklärt Prof. Gerhard Rempe. „Wir denken dabei z.B. an die Untersuchung von Stoßprozessen oder molekularer Spektren. Das ist auch interessant im Hinblick auf die Schlüsselrolle, die Formaldehyd bei chemischen Prozessen im interstellaren Raum spielt.“
Zentrales Element des Experimentes ist eine elektrostatische Falle, die von zwei Kondensatorplatten in einem Abstand von drei Millimetern gebildet wird. Auf den Kondensatorplatten sind durch lithographische Mikrostrukturierung Elektroden angebracht, zwischen denen hohe Spannungen liegen. Während also das Feld im Innern niedrig und homogen ist, steigt es in der Nähe der Platten stark an. In dieses einer „Badewanne“ ähnelnde Potential wird eine bereits auf 1 Kelvin (minus 273 Grad Celsius) vorgekühlte Wolke aus Formaldehyd-Molekülen (H2CO) geladen. Entscheidend für das Funktionieren der relativ neuen Kühltechnik ist, dass die Moleküle ein ausgeprägtes Dipolmoment haben (d.h. die negative Ladung ist zum Sauerstoffatom verschoben). Von dessen Ausrichtung relativ zum elektrischen Feld hängt es ab, wie stark ein Molekül gefangen ist: bei antiparallelem Dipolmoment ist das Molekül stark gefangen; bei geneigtem ist die Wechselwirkung abgeschwächt, und bei Parallelstellung von Dipol und elektrischem Feld fliegt das Teilchen aus der Falle heraus.
In der Falle laufen die Teilchen den Potentialberg am Rand so weit hinauf, bis sich ihre kinetische Energie fast vollständig in potentielle Energie umgewandelt hat. Genau in diesem Moment wird die Richtung ihres Dipolmoments mit Radiofrequenzstrahlung, die nur dort, d.h. bei hohen Feldstärken, resonant mit einem Übergang ist, so gedreht, dass sie in einen weniger gut gefangenen Zustand übergehen. Diesem Zustand entspricht eine kleinere potentielle Energie, und beim Zurückrollen in das Zentrum der Falle gewinnt das Molekül entsprechend weniger kinetische Energie (siehe Abb. 1).
Damit dieser Vorgang mehrfach wiederholt werden kann, muss das Molekül, unten angekommen, wieder in den stark gefangen Zustand gebracht werden. Dafür wird es durch Strahlung aus einem Infrarotlaser in einen angeregten Vibrationszustand überführt, der spontan in den Grundzustand zerfällt. Dabei kann sich der Dipol wieder antiparallel zum Feld einstellen. „Die Geschwindigkeit dieses spontanen Zerfalls bestimmt auch die Geschwindigkeit des gesamten Kühlprozesses. Es ist daher wichtig, dass er viel schneller abläuft als der durch die RF-Strahlung herbeigeführte Übergang“, betont Alexander Prehn, Doktorand am Experiment. „In jedem Zyklus verlieren die Moleküle Bewegungsenergie, und weil sie dabei immer wieder den Berg hinauf laufen müssen, haben wir das Verfahren nach dem antiken Helden Sisyphus benannt.“
Bereits nach knapp 50 Sekunden (das entspricht 15 bis 20 Zyklen) hat sich die molekulare Wolke auf eine Temperatur von etwa 420 Mikrokelvin abgekühlt. Um die Temperaturverteilung genau zu bestimmen, bestrahlen die Wissenschaftler in einer Serie von Messungen das Ensemble mit Radiowellen jeweils unterschiedlicher Frequenz. Die Strahlung überführt alle Moleküle, die den Potentialhügel bis zu einer bestimmten (von der Frequenz abhängigen) Höhe oder darüber hinaus erklommen haben, in einen ungefangenen Zustand, so dass sie aus der Falle fliegen. Die übrig gebliebenen Moleküle (die also weniger Bewegungsenergie haben) werden gezählt. Auf diese Weise lässt sich nach und nach eine Verteilung der kinetischen Energie erstellen (siehe Abb. 2), aus der eine Temperatur von nur 420 Mikrokelvin abgeleitet wird.
Auf diese Weise hat das Team das bisher größte Ensemble ultrakalter Moleküle erzeugt und so einen neuen Rekord aufgestellt. Durch geschickte Bestrahlung des Ensembles mit einem Infrarotlaser und Mikrowellen erreichen die Physiker darüber hinaus, dass sich die Moleküle zu mehr als 80% im gleichen internen Rotationszustand ansammeln. „Das Besondere dabei ist, dass sich in den verschiedenen bei der Kühlung ablaufenden Prozessen die Entropie des Ensembles verringert hat“, betont Martin Zeppenfeld, der Leiter des Projektes. „Mit Hilfe der opto-elektrischen Sisyphus-Kühlung haben wir die Phasenraumdichte des Gases um den Faktor 10 000 erhöht und so die Nützlichkeit der Methode gezeigt. Der erzeugte Zustand, der sich durch eine viel geringere thermische Unordnung auszeichnet, ist entscheidend dafür, dass wir an dem Ensemble z.B. jetzt Stoßprozesse zwischen den Molekülen oder in Zukunft kollektive Vielteilchenphänomene untersuchen können. Auch für die Spektroskopie öffnen sich ganz neue Perspektiven.“
„Laborexperimente mit Formaldehyd bei tiefen Temperaturen sind auch deswegen interessant, weil Formaldehyd eine Schlüsselrolle bei chemischen Prozessen im interstellaren Raum spielt. Es gilt als wichtiger Baustein aller komplexen organischen Verbindungen“, ergänzt Martin Ibrügger, Doktorand am Experiment. Die Kühlmethode lässt sich auf verschiedene Molekülspezies anwenden. Auch ist das Temperaturlimit dieser Methode noch nicht erreicht. „Als einen der nächsten Schritte können wir versuchen, andere Kühltechniken wie das Verdampfungskühlen anzuschließen. Damit könnten wir in den für die Bildung eines Bose-Einstein-Kondensats notwendigen Nanokelvin-Bereich vorstoßen“, erklärt Rosa Glöckner, Doktorandin am Experiment. „Der hier beschriebene Ansatz wäre damit ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu entarteten Quantengasen aus polyatomaren Molekülen.“ Olivia Meyer-Streng