Magnetische Quantenkristalle
In Experimenten mit ultrakalten Rubidiumatomen erzeugen MPQ-Wissenschaftler erstmals quantenmagnetische Kristalle aus Rydberg „Riesenatomen“.
Die Festkörperphysik kennt viele Stoffe, die eine feste kristalline Struktur haben. Das bedeutet, dass sich die Gitterbausteine in regelmäßigen Abständen periodisch wiederholen. Welche Geometrie die resultierende Struktur hat, hängt von äußeren Parametern wie Druck und Temperatur, aber vor allem auch von den zwischen den Teilchen wirkenden Kräften ab, etwa der elektromagnetischen Coulomb-Kraft oder der van der Waals-Kraft. Erstmals ist es nun einem Team von Wissenschaftlern um Prof. Immanuel Bloch (Direktor am MPQ und Lehrstuhl für Experimentalphysik an der LMU) in Zusammenarbeit mit Theoretikern aus Dresden gelungen, nicht kompressible magnetische Kristalle aus einigen hundert Rubidiumatomen zu erzeugen, die je nach Form und Grad der Magnetisierung eine unterschiedliche Geometrie aufweisen. Dabei machen sich die Forscher die extrem verstärkten Wechselwirkungen zwischen hochangeregten Rydberg „Riesenatomen“ zunutze, deren Durchmesser 1000fach größer als der eines normalen Atoms ist (Science, 27. März 2015).
In ihrem Experiment präparieren die Wissenschaftler ein Ensemble aus rund 250 bis 700 Rubidiumatomen in einem optischen Gitter, einer schachbrettartigen Anordnung dunkler und heller Lichtflecken, die durch die kreuzweise Überlagerung stehender Laserwellen erzeugt wird. Die Anzahl der Atome und die Intensität der Laserstrahlen werden so gewählt, dass jeder Gitterplatz mit genau einem Atom besetzt ist. Für ihre Untersuchungen schneiden die Wissenschaftler zunächst ein linienförmiges, für eine zweite Messreihe ein scheibenförmige Segment aus diesem Gitter heraus – ein Prozess ähnlich dem Ausstanzen von Plätzchen aus einem Teig, allerdings mit atomarer Genauigkeit! Im nächsten Schritt setzen sie die atomare Wolke Laserlicht aus, das einzelne Atome zum Übergang in einen sogenannten Rydberg-Zustand anregt. Hier ist das äußerste Hüllenelektron so weit vom Atomkern entfernt, dass sich der Radius des Atoms auf das rund 1000fache aufbläht! Zwischen solch riesigen Atomen treten extrem starke Kräfte mit großer Reichweite auf, sogenannte van der Waals-Kräfte, die bei dem hier gewählten Rydberg-Zustand eine abstoßende Wirkung haben.
Die spannende Frage ist nun, wie sich die Zahl dieser gigantischen Rydberg-Atome in Abhängigkeit von Änderungen in der Laserstrahlung entwickelt, und welche Strukturen sich aufgrund der abstoßenden Wechselwirkung zwischen ihnen dabei herausbilden. „Wir können die Zustandsänderung der Atome infolge der Einstrahlung von Laserlicht mit der Magnetisierung von festen Stoffen durch äußere Magnetfelder in der klassischen Physik vergleichen“, erklärt Dr. Christian Groß, Leiter des Projektes. „Die Rubidiumatome verkörpern dabei Elementarmagnete, die sich in einem äußeren Magnetfeld in zwei Richtungen orientieren können. Atome im Grundzustand entsprechen Magneten, die sich „nach unten“, d.h. in Richtung eines äußeren Feldes einstellen, die angeregten Rydberg-Zustände sind das Pendant zu nach oben gerichteten Magneten.“
Um einzelne Elementarmagnete allmählich umzuklappen, würde man im klassischen Fall damit beginnen, das äußere Magnetfeld zu drehen. In dem hier beschriebenen Experiment verschieben die Wissenschaftler im Laufe der Zeit die Frequenz des anregenden Laserlichts über die Resonanzfrequenz der Atome bei gleichzeitiger Änderung der Leistung des Lasers. Zu verschiedenen Zeiten schalten sie die Anregungsstrahlung aus und registrieren den Zustand, der sich eingestellt hat. Dazu machen sie mit der Technik der Fluoreszenzmikroskopie die einzelnen Rydberg-Atome mit extrem hoher räumlicher Auflösung direkt sichtbar. Auf diese Weise lässt sich die Entstehung des Kristalls auf mikroskopischer Ebene mit hoher Zeitauflösung verfolgen.
Die Wissenschaftler untersuchten außerdem das Verhalten des Systems bei einer Änderung seiner Größe. Die Messungen ergeben, dass die Magnetisierung stufenweise ansteigt. D.h. es gibt Plateaus mit einer konstanten Zahl von Rydberg-Atomen, und zwar jeweils bis zu einer kritischen Systemgröße (siehe Abb. 1). Im Bereich der Plateaus ist das System inkompressibel und es liegt ein Kristall vor. Bei den linienförmigen Systemen lässt sich besonders leicht verfolgen, wie sich die verschiedenen Magnetisierungsstufen herausbilden. „Am Anfang des Laserpulses beobachten wir delokalisierte Rydberg-Atome über die ganze Wolke verteilt. Das ist charakteristisch für die magnetisch ungeordnete Phase in diesem Parameter-Regime“, erklärt Peter Schauß, Doktorand am Experiment. „Nach einer Weile finden sich die aufwärts gerichteten Magnete an den beiden Enden der langgestreckten Wolke. In den nächsten Kristallisationsstufen ordnen sich weitere Rydberg-Atome in regelmäßigen Abständen dazwischen an. Auf diese Weise konnten wir eindimensionale Kristalle aus bis zu vier Rydberg-Atomen erzeugen. Die Dynamik dieses Kristallisationsprozesses entspricht den theoretischen Erwartungen.“
Ein ähnliches Verhalten wurde an dem zweidimensionalen, scheibenförmigen Ensemble beobachtet. Auch hier waren Veränderungen der Struktur in Abhängigkeit von der Zahl der Rydberg-Atome klar zu erkennen (siehe Abb. 2). „Wir finden tatsächlich für jede Magnetisierungsstufe eine eigene Kristallgeometrie“, betont Christian Groß. „Die resultierenden Quantenkristalle besitzen keine feste Orientierung im Raum sondern befinden sich in einer quantenmechanischen Überlagerung aller möglichen Ausrichtungen. Erst die Messung legt die Orientierung fest.“
Die fragilen Quantenkristalle sind aber nicht nur wegen ihrer geometrischen, sondern auch wegen ihrer magnetischen Eigenschaften interessant. Denn wegen der sich über mehrere Gitterplätze erstreckenden Wechselwirkung der Rydberg-Atome (der aufwärts gerichteten Magnete) gibt es zwischen ihnen immer einige Atome im Grundzustand (abwärts gerichtete Magnete). Das entspricht in etwa der Struktur eines antiferromagnetischen Stoffs (klassisches Beispiel: Manganoxid, MnO), in dem aber jeweils benachbarte Elementarmagnete entgegengesetzt ausgerichtet sind. Und in der Tat greifen die Wissenschaftler für die Beschreibung ihrer Quantenkristalle erfolgreich auf die entsprechenden theoretischen Modelle zurück.
Mit der Erzeugung diskreter kristalliner Phasen aus wenigen Atomen ist dem Team um Prof. Bloch ein Kunststück gelungen, das erst durch eine hochpräzise Steuerungstechnik möglich wurde. Denn die Rydberg-Zustände sind sehr kurzlebig und zerfallen bereits nach einigen zehn Mikrosekunden. In Zukunft könnte die neue Technik genutzt werden, um neuartige Quantenphasenübergänge und Quanten-Magnete mit großer Reichweite zu untersuchen. Der hohe Grad der Kontrolle über Rydberg-Vielteilchensysteme ist dabei auch ein wichtiger erster Schritt auf dem Weg zur Quantensimulation von dynamischen Eichtheorien aus der Hochenergiephysik. Olivia Meyer-Streng