Die neue Welt der Gammastrahlen-Optik
In geeigneten Materialien wie Silizium oder Gold entdecken Wissenschaftler unerwartet großen Brechungsindex für extrem energiereiche Gamma-Strahlung.
Ein neues Kapitel der Optik hat jetzt eine Forschergruppe um Prof. Dietrich Habs (Ludwig-Maximilians-Universität München und Max-Planck-Institut für Quantenoptik, Garching) aufgeschlagen, in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern am Institut Laue-Langevin (ILL, Grenoble, Frankreich): Bei Experimenten mit Gammastrahlen aus dem Hochflussreaktor des ILL wiesen sie nach, dass sich diese extrem energiereichen elektromagnetischen Wellen ähnlich wie herkömmliches Licht mit Linsen fokussieren lassen, anders, als es gängige Theorien vorhersagten (PRL, 3. Mai 2012). Diese Entdeckung wird zahlreiche neue Anwendungen ermöglichen, insbesondere in der Nuklearphysik und der Nuklearmedizin.
Optische Instrumente wie Teleskope und Mikroskope beruhen auf der Brechung von Licht: Die elektromagnetischen Wellen breiten sich in einem Medium wie Glas langsamer aus als in Luft oder im Vakuum und werden darum abgelenkt – beispielsweise auf die Brennebene einer Fotokamera. Wie groß dieser Effekt ist, beschreibt der Brechungsindex, der vom Linsenmaterial und der Frequenz der Wellen abhängt: Je mehr er sich von 1 unterscheidet, desto stärker ist die Ablenkung der Lichtstrahlen.
Bisher gingen die Physiker davon aus, dass sich elektromagnetische Strahlung, deren Energie weit oberhalb der des sichtbaren Spektrums liegt, nicht mit Linsen ablenken lässt. Sie hatten berechnet, dass der Brechungsindex in diesem Spektralbereich für alle Materialien fast genau 1 beträgt. Doch schon Mitte der 1990er-Jahre zeigte sich, dass auch Röntgenstrahlen durch Linsen aus Beryllium oder Kohlenstoff abgelenkt werden können. „Ich war von den Röntgen-Linsen begeistert“, erinnert sich Habs. „Darum habe ich mich gefragt, ob es etwas Vergleichbares auch im Bereich der Gammastrahlen geben könnte.“
Für ihre Experimente nutzen die Wissenschaftler die intensive Gammastrahlenquelle am Forschungsreaktor des Institut Laue-Langevin in Grenoble. Die hier erzeugten Gammastrahlen mit Energien von 0,18 bis 2 Megaelektronvolt lenkten sie durch zwei Siliziumkristalle, zwischen denen ein Siliziumprisma lag, auf einen Detektor. Dabei spalteten sie den Strahl so auf, dass nur ein Teil durch das Prisma verlief, während der andere sich in Luft ausbreitete. Über den Vergleich der beiden Strahlbahnen ermittelten die Wissenschaftler die durch das Prisma hervorgerufene Ablenkung: diese war hunderttausend Mal größer, als es auf Störungstheorie beruhende Vorhersagen erwarten ließen. Grund dafür ist der bislang unterschätzte Effekt der sogenannten „Delbrück-Streuung“. „Silizium-Atome haben 14 Protonen in ihrem Kern und erzeugen dort ein sehr starkes elektrisches Feld. In diesem Feld entstehen ständig extrem viele Paare aus Elektronen und Positronen, die zwar nur für kurze Zeit existieren, aber dennoch mit den Gammastrahlen in Wechselwirkung treten können“, erklärt Prof. Habs.
Der hier erstmals beobachtete unerwartet hohe Brechungsindex für Gammastrahlen erlaubt die Entwicklung spezieller Optiken für die Optimierung von Gammastrahlungsquellen. Diese haben ein großes Potential für Anwendungen. Da Gammastrahlen tief in das Atom, bis zu dessen Kern vordringen, sind sie sensitiv für die verschiedenen Isotope eines chemischen Elementes. Das erschließt z.B. neue Möglichkeiten für den Nachweis von waffenfähigem Uran. Hochgiftiger radioaktiver Abfall könnte in verschlossenen Behältern analysiert und „zerschossen“ werden, um sein Gefährdungspotential zu mindern. Und auch die Medizin könnte von der Entdeckung profitieren. So benötigt man für den Nachweis von Tumorzellen im Allgemeinen andere radioaktive Isotope als für deren Therapie. Beide könnte man mit neuen Gammastrahlenquellen gezielt herstellen.
Im Sommer wird das Team von Prof. Habs weitere Messungen an der European Synchrotron Radiation Facility (ESRF) in Grenoble vornehmen – dieses Mal mit Linsen aus Gold. „Gold hat 79 Protonen im Kern und wird die Gammastrahlen darum noch viel stärker ablenken als Silizium“, erklärt Habs. [Ch.B./O.M.]
Bildunterschrift: Instrumente einer neuen Optik: Diese Goldlinsen brechen Gamma-Strahlung vermutlich viel stärker als Silizium-Linsen, an denen Physiker die Ablenkung der energiereichen elektromagnetischen Wellen erstmals beobachteten. Die Forscher widerlegten damit theoretische Vorhersagen und zeigen eine Perspektive auf für zahlreiche Anwendungen in der Medizin und Materialforschung. Foto: Dietrich Habs / LMU
Kontakt:
Prof. Dr. Dietrich Habs
Ludwig-Maximilians-Universität München
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Dr. Olivia Meyer-Streng
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