Quantensysteme aus dem Gleichgewicht

Forschende entwickeln einen neuartigen Ansatz für Tensor-Netzwerke, um Quanten-Vielteilchensysteme über lange Zeitspannen hinweg zu simulieren.

25. April 2024

Theoretiker:innen in der Arbeitsgruppe von Mari Carmen Bañuls am MPQ sind dem Verständnis, wie sich Quanten-Vielteilchensysteme mit der Zeit entwickeln, einen wichtigen Schritt näher gekommen. In einer neuen Arbeit, die kürzlich in der Fachzeitschrift Physical Review Letters veröffentlicht wurde, formulieren sie einen neuen Algorithmus, um die Dynamik von komplexen Quantensystemen zu simulieren, deren Teilchen sich nicht im Gleichgewicht befinden – eine außerordentlich schwierige Aufgabe, die jedoch großes wissenschaftliches Potenzial birgt für die Physik der kondensierten Materie sowie für das Verständnis und die Herstellung von neuartigen und exotischen Materialien.

Vorhersagen darüber zu treffen, wie sich Quanten-Vielteilchensysteme über die Zeit verhalten, deren Teilchen nicht im Gleichgewicht sind, ist bekanntermaßen äußerst schwierig, selbst wenn man nur an den Eigenschaften einzelner Teilchen interessiert ist. Die Fähigkeit zu diesen Vorhersagen ist aus praktischer und theoretischer Sicht jedoch sehr hilfreich.

Auf der praktischen Seite ermöglichen es diese Simulationen, ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie Quantensysteme auf äußere Störungen reagieren oder wie sich Anregungen durch das System bewegen. Dies sind wichtige Fragen für die Physik der kondensierten Materie und Fortschritte in diesem Bereich können helfen, neuartige Materialien zu entwickeln, die ganz bestimmte „exotische“ Eigenschaften haben. Gleichzeitig ist es auch aus theoretischer Sicht interessant zu verstehen, wie und unter welchen Bedingungen Quantensysteme thermalisieren.

Was bedeutet thermalisieren? Dazu ein kleines Gedankenexperiment: Man zwei Gläser Wasser, eines warm, eines kalt. Anschließend schüttet man beide zusammen in ein Gefäß. Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass das Wasser nach kurzer Zeit eine gleichmäßige lauwarme Temperatur annimmt, die zwischen den beiden Ausgangstemperaturen liegt. Dieses Phänomen nennt man Thermalisierung: der Zustand des Systems erreicht nach einiger Zeit einen sogenannten thermischen Gleichgewichtszustand, der durch eine bestimmte neue Temperatur beschrieben wird. Dieses Phänomen beobachtet man auch in Quantensystemen.

Während aber die Dynamik der Thermalisierung klassischer Systeme relativ gut verstanden ist, sind in der Quantenwelt noch viele offene Fragen zu klären. Wir wissen, dass die Quantendynamik zu Verschränkung im System führt, das dann für die Thermalisierung verantwortlich ist. Die gleiche Verschränkung ist es aber auch, die selbst die leistungsfähigsten Tensor-Netzwerk-Simulationen bislang daran hindert, die Dynamik auf hinreichend langen Zeitskalen zu simulieren, um Thermalisierung von quantenmechanischen Systemen zu verstehen.

Tensor-Netzwerke sind Faktorisierungen von sehr großen Tensoren in Netzwerke kleinerer Tensoren und eine sehr wirksame Methode, um den Zustand vieler Quantenteilchen effizient zu beschreiben. Ein Tensor ist ein mathematisches Objekt, das zur Beschreibung physikalischer Eigenschaften verwendet werden kann. Man findet Tensor-Netzwerke heute in der angewandten Mathematik, der Chemie, der Physik, dem maschinellen Lernen und anderen Bereichen.

Besonders gut funktioniert die Methode bei der Beschreibung von Quantensystemen, wenn der von ihnen dargestellte Zustand nur einen geringen Grad der Verschränkung aufweist – genauer gesagt, wenn die Verschränkung zwischen zwei Teilsystemen nicht mit dem Volumen des Gesamtsystems, sondern proportional zur Grenzfläche zwischen den Teilsystemen wächst (das sogenannte „Area-Law“). Die Entwicklung eines Quantensystems über die Zeit hinweg erzeugt jedoch so viel Verschränkung, dass dieses Gesetz schließlich verletzt wird und Tensor-Netzwerke das System deswegen nicht mehr angemessen abbilden können.

In einer jüngst erschienen Arbeit haben Forschende in der Theorie-Gruppe am MPQ in Kollaboration mit dem Wissenschaftler Luca Tagliacozzo vom CSIC, der größten öffentlichen Forschungseinrichtung Spaniens, daher eine neue Idee entwickelt, um dieses Problem zu lösen. Mittels eines neuen Algorithmus ist es nun möglich, die dynamisch entstandene Verschränkung aktiv in die thermische Beschreibung ihrer Simulation zu überführen. Das macht es möglich, die Systeme über längere Zeiträume hinweg numerisch zu simulieren – wesentlich länger als es bisher möglich war – und dabei das Verhalten der Bestandteile des Systems genau zu verfolgen, bis das Gleichgewicht erreicht ist.

“Aktuell können wir mit unserer Technik nur eindimensionale Systeme untersuchen, bei denen die Bewegung der Teilchen auf eine Linie beschränkt ist. Aber selbst die Beobachtung solch einfacher Systeme ist seit Jahren ein großes Problem. In Zukunft können wir aber idealerweise Systeme untersuchen, in denen die Teilchen geometrisch flexibler sind oder anders miteinander wechselwirken als die, die wir jetzt betrachtet haben”, Miguel Frías-Pérez, Doktorand in der Gruppe von Mari Carmen Bañuls.

“Wir hoffen, dass unsere Ideen dabei helfen, die Thermalisierung dieser Quantensysteme besser zu verstehen und neue Algorithmen inspirieren, die vielleicht schon bald allgemeinere Szenarien bewältigen und zur Lösung einiger aktueller Herausforderungen der Physik der kondensierten Materie beitragen können”, fügt der Wissenschaftler hinzu.

 

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht