Der „Big Bell Test“

Ein globales Physik-Experiment mit Hilfe von hunderttausend Freiwilligen stellt Albert Einsteins Weltbild auf den Prüfstand.

10. Mai 2018
Experimente, die gleichzeitig auf fünf Kontinenten ablaufen, testen Einsteins Prinzip des lokalen Realismus. Die Teilnehmer trugen zu dem Experiment durch die Erzeugung von 90 Millionen Bits bei. Um das Problem der „Freiheit der Wahl“ („freedom of choice loophole“) in solchen Experimenten zu umgehen, bestimmten sie die Art der Messung rein zufällig. Die Arbeit wurde in der Zeitschrift Nature (10. Mai 2018) veröffentlicht.

Am 30. November 2016 beteiligten sich mehr als 100.000 Personen an einem einmaligen Quantenphysik-Experiment, das auch der Big Bell-Test genannt wird. Unter Nutzung von Smartphones, Tablets oder Computern erzeugten die Teilnehmer in einem Spiel über Internet unvorhersagbare Bits, die wiederum bestimmten, auf welche Weise verschränkte Atome, Photonen und supraleitende Schaltkreise in 12 weltweit verteilten Laboren gemessen wurden. Diesen menschlichen Input nutzten die Wissenschaftler, um ein schwer zugängliches Schlupfloch zu schließen, das bei Überprüfungen von Einsteins Prinzip des lokalen Realismus auftritt. Die Ergebnisse wurden nun analysiert und in der Zeitschrift Nature veröffentlicht.

Bei einem Bell-Test (genannt nach dem Physiker John Stewart Bell) werden Paare von verschränkten Teilchen, z.B. Photonen, erzeugt und zu verschiedenen Orten geschickt. Dort werden ihre Eigenschaften gemessen, etwa die Farbe des Lichtquants oder seine Ankunftszeit. Falls die Messergebnisse an beiden Teilchen tendenziell übereinstimmen, unabhängig davon, welche Eigenschaften man für die Messung auswählt, hat das eine sehr erstaunliche Implikation: entweder beeinflusst die Messung des Teilchens mit sofortiger Wirkung das andere Teilchen (auch wenn dieses weit entfernt ist), oder, noch seltsamer, die Eigenschaften haben gar nicht wirklich existiert, sondern entstehen erst bei der Messung. Beide Möglichkeiten widersprechen dem als lokalen Realismus bezeichneten Weltbild Einsteins, dass das Universum von unseren Beobachtungen unabhängig ist und sich keine Wirkung schneller als mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten kann.

Bei dem  Big Bell-Test wurden die Teilnehmer (auch Bellsters genannt) gebeten, die Art der Messung zu bestimmen, um das sogenannte „Schlupfloch der Freiheit der Wahl“ („freedom of choice loophole“) zu schließen – die Möglichkeit, dass die Teilchen selbst die Entscheidung über die Messung beeinflussen. Denn ein solcher Einfluss, sollte er existieren, würde den Test unbrauchbar machen. Es wäre so, als würde man Studenten erlauben, ihre eigenen Fragen fürs Examen zu stellen. Dieses Schlupfloch kann nicht durch Würfeln oder einen Zufallszahlen-Generator geschlossen werden, da hier immer die Möglichkeit besteht, dass diese physikalischen Systeme mit den verschränkten Teilchen koordiniert sind. Dass die Entscheidung von Menschen getroffen wird, führt ein Element des freien Willens ein.

Unter der Führung des ICFO-The Institute of Photonic Sciences in Barcelona wurden für den Test Teilnehmer auf der ganzen Welt rekrutiert, um unvorhersagbare Folgen von Nullen und Einsen (Bits) über ein Online-Videogame beizusteuern. Diese Bits wurden in experimentelle Labore in Brisbane, Shanghai, Wien, Rom, München, Zürich, Nizza, Barcelona, Buenos Aires, Concepción Chile und Boulder Colorado geschickt. Dort bestimmten sie die Einstellungen von Polarisatoren oder anderen optischen Elementen, um festzulegen, wie die verschränkten Teilchen gemessen wurden. 

Die Teilnehmer steuerten mehr als 90 Millionen Bits bei und ermöglichten so einen starken Test des lokalen Realismus. Die Ergebnisse stehen in starkem Widerspruch zu Einsteins Weltsicht und schließen erstmals das Schlupfloch der Freiheit der Wahl. Überdies zeigen sie verschiedene neue Methoden auf, um Verschränkung und lokalen Realismus zu untersuchen.

Das LMU-MPQ Experiment

Das Max-Planck-Institut für Quantenoptik trug zu diesem Unterfangen auf zweierlei Wegen bei. Zum einen haben die beteiligten Wissenschaftler die Spielregeln aufgestellt, nach denen die Teilnehmer rund um den Globus ihre Bits erzeugten: mit einem lernenden Algorithmus, der den Teilnehmern die Vorhersagbarkeit von menschlichen „Zufallsentscheidungen“ bewusst machte (im Spiel „Orakel genannt“). „Ich erinnere mich, dass es auf der höchsten Stufe des Spiels schwer war, das Orakel zu schlagen“, sagt Jordi Tura (MPQ und ICFO), der den Algorithmus entworfen hat.

Zum andern verwendete das MPQ-LMU Team unter der Führung von Wenjamin Rosenfeld und Harald Weinfurter die verteilten Bits, um die Bellsche Ungleichung zu testen. Dazu verschränkten sie in einem Labor ein einzelnes gefangenes Atom mit einem einzelnen Photon, das anschließend in ein vierhundert Meter entferntes Labor geschickt wurde. Um das Spiel noch spannender zu machen, benutzten die Wissenschaftler in beiden Laboren zusätzlich sogenannte „Quanten-Zufallszahlen-Generatoren (QNRG)“. Das sind die besten derzeit verfügbaren Quellen für Zufallsbits. Damit konnten die menschlichen Teilnehmer zusätzlich bei jeder Messung entscheiden, ob ein Mensch oder ein QNRG die Messparameter festlegt, so dass man die jeweiligen Ergebnisse miteinander vergleichen konnte.

In den MPQ-LMU-Tests weisen beide Daten-Sets, sowohl die von Personen als auch die von QNRG bestimmten, den gleichen Grad der Verletzung der Bellschen Ungleichung auf. Dies bedeutet zwar nicht notwendigerweise, dass Menschen Zufallsbits mit der gleichen Qualität wie dafür spezialisierte Geräte erzeugen können. Das Experiment demonstriert aber eine neue Möglichkeit, unvorhersagbare Entscheidungen in Quantenexperimenten zu treffen. „Der 16. November war ein sehr spannender Tag. Es gab großes Feedback, und viele unserer Freunde und sogar Eltern haben bei dem Test mitgemacht“, sagt Kai Redeker (LMU), der das Experiment durchgeführt hat. „Es ist ein ganz neuer und spannender Weg, menschliche Entscheidungen in solchen Tests zu benutzen, um das Schlupfloch der Freiheit der Wahl zu behandeln“, betont Wenjamin Rosenfeld. Und Harald Weinfurter ergänzt: „Es muss noch eine Menge getan werden, um alle möglicherweise in Experimenten auftretenden Schlupflöcher zu schließen. Aber wir sind auf einem guten Weg.“

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