Tumult im trägen Elektronen-Dasein

Ein internationales Team von Physikern hat erstmals das Streuverhalten von Elektronen in einem nichtleitenden Material direkt beobachtet. Ihre Erkenntnisse könnten der Strahlungsmedizin zu Gute kommen.

Elektronen in nichtleitenden Materialien könnte man Trägheit nachsagen. In der Regel bleiben sie an ihren Plätzen, tief im Inneren eines solchen Atomverbunds. Es herrscht also relative Ruhe im dielektrischen Kristallgitter. Dieses Idyll haben nun Physiker vom Labor für Attosekundenphysik (LAP) der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) und des Max-Planck-Instituts für Quantenoptik (MPQ) in einer Teamarbeit mit Wissenschaftlern vom Institut für Photonik und Nanotechnologien (IFN-CNR) in Mailand, dem Polytechnikum Mailand, dem Institut für Physik der Universität Rostock, dem Max-Born-Institut (MBI) in Berlin, sowie dem Center for Free-Electron Laser Science (CFEL) in Hamburg und der Universität Hamburg erheblich durcheinander gewirbelt. Zum ersten Mal haben es die Forscher damit geschafft, die Interaktion zwischen Licht und Elektronen in einem Dielektrikum, also einem nichtleitenden Material, auf Zeitskalen von Attosekunden (Milliardstel von milliardstel Sekunden) zu verfolgen.

Die Forscher schickten auf ein rund 50 Nanometer dickes Glasteilchen Lichtblitze, die nur wenige hundert Attosekunden dauerten und Elektronen in dem Glas freisetzten. Gleichzeitig strahlten die Forscher ein intensives Lichtfeld auf die Glasteilchen, das nur wenige Femtosekunden (Millionstel von milliardstel Sekunden) wirkte und die freigesetzten Elektronen in Schwingungen versetzte. Grundsätzlich konnte es in der Folge zu zwei unterschiedlichen Reaktionen der Elektronen kommen. Zuerst setzen sie sich in Bewegung, dann stoßen sie mit den Atomen aus dem Teilchen entweder elastisch oder unelastisch zusammen. Zwischen jeder Wechselwirkung konnten sich die Elektronen aufgrund des dichten Kristallgitters nur wenige Ångström (10-10 Meter) frei bewegen. „Bei einem elastischen Stoß bleibt wie beim Billard die Energie des Elektrons erhalten, nur die Richtung kann sich ändern. Bei einem unelastischen Stoß werden die Atome angeregt und ein Teil der Energie der Elektronen geht verloren. Für das Experiment bedeutete dies einen Rückgang des Elektronensignals, den wir messen konnten“, beschreibt Prof. Francesca Calegari (CNR-IFN Mailand und CFEL/Universität Hamburg) die Experimente.

Da es dem Zufall überlassen ist, ob eine Interaktion elastisch oder unelastisch erfolgt, werden mit der Zeit zwangsläufig unelastische Interaktionen stattfinden und die Anzahl rein elastisch gestreuter Elektronen abnehmen. Durch genaue Messung der Schwingung der Elektronen in dem starken Lichtfeld gelang es den Forschern herauszufinden, dass es im Mittel ca. 150 Attosekunden dauerte, bis elastisch stoßende Elektronen das Nanoteilchen verlassen hatten. „Aus der gemessenen Zeitverzögerung konnten wir mittels unserer neu entwickelten Theorie eine unelastische Stoßzeit von etwa 370 Attosekunden für die Elektronen bestimmen und damit erstmals diesen Prozess in einem Dielektrikum zeitlich vermessen“, beschreibt Prof. Thomas Fennel von der Universität Rostock und dem Max-Born Institut in Berlin die Analyse der Messdaten.

Die Erkenntnisse der Forscher könnten nun medizinischen Anwendungen zu Gute kommen. Denn mit diesen weltweit ersten Ultrakurzzeit-Beobachtungen von Elektronenbewegungen in einem nichtleitenden Material haben die Forscher wichtige Erkenntnisse über die Wirkung von Strahlung in einem Körper erlangt, der dem menschlichen Gewebe in seinen dielektrischen Eigenschaften ähnlich ist. In den Experimenten ist die Energie der angeregten Elektronen über das Licht steuerbar und somit kann dieser Prozess für einen breiten Energiebereich und für verschiedene Dielektrika untersucht werden. „Bei jeder Einwirkung hochenergetischer Strahlung auf Gewebe werden Elektronen erzeugt, die wiederum durch unelastische Stöße Energie auf die Atome und Moleküle des Gewebes übertragen, wodurch dieses zerstört werden kann. Genaue Kenntnisse über die Elektronenstreuung sind daher für die Bekämpfung von Tumoren wichtig. Hiermit lassen sich durch Computersimulationen Behandlungen so optimieren, dass ein Tumor zerstört wird, gesundes Gewebe aber möglichst verschont bleibt“, beschreibt Prof. Matthias Kling die Bedeutung der Arbeiten. Im nächsten Schritt wollen die Wissenschaftler in den Experimenten die Glas-Nanoteilchen durch Wassertropfen ersetzen, um das Wechselspiel zwischen Elektronen und dem Stoff, aus dem lebendes Gewebe größtenteils besteht, genauer zu untersuchen. Thorsten Naeser

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht