Aufbruch aus dem Flachland – Quanten-Hall-Physik in 4D

LMU/MPQ-Forscher realisieren eine dynamische Form des 4D Quanten-Hall-Effekts mit ultrakalten Atomen in einem optischen Übergitterpotential

4. Januar 2018
Die Existenz zusätzlicher Dimensionen wird bereits in der Literatur diskutiert, z.B. in der satirischen Novelle „Flatland: A Romance of Many Dimensions“ (1884) von Edwin Abbott. Sie porträtiert die Viktorianische Gesellschaft im England des 19. Jahrhunderts als eine hierarchische zweidimensionale Welt, die aufgrund ihrer niedrig-dimensionalen Natur unfähig ist ihre eigene Beschränktheit zu begreifen. In der Physik wurde die Möglichkeit, dass unser Universum mehr als drei Raumdimensionen hat, erstmals in den 1920er Jahren im Zuge der Allgemeinen Relativitätstheorie von Albert Einstein erwogen. In der Absicht, Einsteins Ideen mit den Gesetzen der Quantenmechanik in Einklang zu bringen, postulieren moderne String-Theorien sogar bis zu 10 Dimensionen. In einem ganz anderen Kontext hat jetzt ein internationales Wissenschaftlerteam um Professor Immanuel Bloch (LMU/MPQ) und Professor Oded Zilberberg (ETH Zürich) gezeigt, wie sich physikalische Phänomene, die in höher-dimensionalen Systemen existieren sollten, auch in realen Experimenten hervorrufen lassen. Dazu verwendeten sie ultrakalte Atome in einem periodisch modulierten, zweidimensionalen Übergitterpotential. In diesem System beobachteten sie eine dynamische Form eines neuartigen Quanten-Hall-Effekts, der nach theoretischen Vorhersagen in vierdimensionalen Systemen auftreten sollte. (Nature, 4. Januar 2018)

Der Hall-Effekt tritt auf, wenn sich elektrisch geladene Teilchen in einer zweidimensionalen Ebene bewegen, die einem Magnetfeld ausgesetzt ist. Aufgrund der Lorentz-Kraft werden die Teilchen senkrecht zu ihrer Bewegung und senkrecht zur Richtung des Magnetfeldes abgelenkt, wodurch sich zwischen den Rändern der Fläche die sogenannte Hall-Spannung aufbaut. 1980 machte Klaus von Klitzing die unerwartete Entdeckung, dass diese Spannung bei tiefen Temperaturen und sehr starken Magnetfeldern nur bestimmte quantisierte Werte annehmen kann. Noch dazu sind diese Werte, ganz unabhängig von den spezifischen Eigenschaften der experimentellen Probe, immer identisch. Diese überraschende Tatsache hängt, wie später gezeigt wurde, mit der Topologie der quantenmechanischen Wellenfunktionen zusammen, die das Verhalten der Elektronen bei so tiefen Energien beschreiben. Für diese fundamentale Arbeit wurde David Thouless 2016 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet. 

Als wichtige Voraussetzung für das Auftreten des Quanten-Hall-Effekts stellte sich die zweidimensionale Geometrie der Proben heraus. Nachweislich kann das Phänomen nicht in dreidimensionalen Systemen auftreten; anschaulich gesprochen liegt das daran, dass die Richtung senkrecht zur Bewegung der Teilchen dann nicht eindeutig definiert ist. So blieb die Meinung bestehen, dass der Quanten-Hall-Effekt auf zweidimensionale Systeme beschränkt ist. Doch rund 20 Jahre nach seiner Entdeckung postulierten theoretische Physiker, dass ein ähnlicher Effekt auch in vierdimensionalen Systemen auftreten müsste. Dieser 4D Quanten-Hall-Effekt weist weitere erstaunliche Eigenschaften auf wie beispielsweise quantisierte nicht-lineare Hall-Ströme. Lange Zeit wurde diese Idee aber als mathematische Kuriosität betrachtet, deren experimentelle Umsetzung völlig unrealistisch ist, obschon sich daraus weitreichende Folgen für die Physik der kondensierten Materie ergeben: zwei der bedeutendsten Entdeckungen der letzten Jahre, toplogische Isolatoren und Weyl-Halbmetalle, können aus 4D Modellen des Quanten-Hall-Effekts abgeleitet werden.  

2013 fand Oded Zilberberg gemeinsam mit Kollegen heraus, dass ein wichtiges Kennzeichen des 4D Quanten-Hall-Effekts auch in speziellen zeitabhängigen zweidimensionalen Systemen sichtbar werden müsste: in sogenannten toplogischen Ladungspumpen, die eine dynamische Form höher-dimensionaler Modelle darstellen. Dieses Konzept ist eine Verallgemeinerung einer ursprünglich auf David Thouless zurückgehenden Idee. Dieser zeigte 1983, dass ein quantisierter Teilchentransport durch eine zeitlich periodische Modulierung eindimensionaler Systeme erzeugt werden kann, und dass dies mathematisch äquivalent zu dem zweidimensionalen Quanten-Hall-Effekt ist. Infolgedessen sollte es möglich sein, den für vier Dimensionen vorhergesagten nicht-linearen Hall-Strom zu messen, wenn man zwei solche orthogonal ausgerichtete Systeme kombiniert.

Dies ist jetzt der Arbeitsgruppe von Immanuel Bloch gelungen. Dazu wird zunächst eine Wolke von Atomen nahe dem absoluten Temperaturnullpunkt in ein zweidimensionales optisches Gitter geladen, das durch Interferenz stehender Laserwellen in zwei senkrechten Richtungen erzeugt wird. Das Potential des so entstandenen „Lichtkristalls“ ähnelt einem Eierkarton, in dem sich die Atome bewegen können. In beiden Richtungen wird zusätzlich ein weiterer Laserstrahl mit einer anderen Wellenlänge eingestrahlt, wodurch ein sogenanntes Übergitter entsteht. Die zweidimensionale toplogische Ladungspumpe wird erzeugt, indem entlang der einen Achse zwischen den beiden Laserstrahlen unterschiedlicher Wellenlänge ein konstanter kleiner Winkel eingeführt wird. Gleichzeitig wird senkrecht dazu die Wellenlänge des zusätzlichen Laserstrahls leicht verschoben, was zu einer sich dynamisch ändernden Form des Potentials führt.

Wenn das Potential sich mit der Zeit ändert, bewegen sich die Atome vor allen in Richtung der Modulation, und diese Bewegung ist quantisiert. Das ist die von Thouless vorhergesagte lineare Antwort des Systems, die dem zweidimensionalen Quanten-Hall-Effekt entspricht. Doch zusätzlich beobachteten die Münchner Forscher eine leichte Drift der Atome transversal dazu, obschon das Gitterpotential in dieser Richtung während des ganzen Experiments unverändert blieb. In dieser transversalen Bewegung äußert sich das Auftreten der nicht-linearen Hall-Ströme, die für den vierdimensionalen Hall-Effekt charakteristisch sind. Indem die Wissenschaftler die Lage der Atome im Gitter während dieses Prozesses genau verfolgten und analysierten, konnten sie außerdem zeigen, dass die Bewegung quantisiert ist; dies ist ein Zeichen für die Quantennatur des Hall-Effekts in 4D.

Die Ergebnisse sind jetzt in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht, gleichzeitig mit der ergänzenden Arbeit einer amerikanischen Arbeitsgruppe. Hier wurden photonische Strukturen genutzt um die komplizierten Grenzeffekte zu untersuchen, die die Bewegung der Teilchen infolge des 4D Quanten-Hall-Effekts begleiten. Zusammen liefern diese Veröffentlichungen einen ersten experimentellen Blick in die Physik höher-dimensionaler Quanten-Hall-Systeme, die eine Reihe faszinierender Aussichten für die Zukunft bieten. So werden 4D Quanten-Hall-Systeme als Versuchsmodelle vorgeschlagen, um fundamentalen Fragen nachzugehen, die wichtig für unser Verständnis des Universums sind, wie etwa das Wechselspiel von Quantenkorrelationen und Dimensionalität, die Erzeugung kosmischer Magnetfelder oder die Quantengravitation. [ML/OM]

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